Karl Marx: „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“
Kapitalismuskritik ist ein sehr grober Überbegriff, unter den sich vielfältigste Ansätze, Strömungen, theoretische Debatten und Denkrichtungen einordnen lassen. In den Beiträgen in KRASS#2 wird die Scheinfreiheit im neoliberal geprägten Kapitalismus angeprangert (BikePunx), werden zentrale Strömungen von kapitalismuskritischen Schulen (Von falschen Bedürfnissen und Waren-Wünschen) in einen historischen Kontext gebracht und zusammengedacht und in einem wieder anderen Artikel zum Buchdruck finden sich ebenfalls marxistisch geprägte Theorieansätze aus den Cultural Studies (Begehren gedruckt). Aus diesem Grund würden wir gern an dieser Stelle ein paar begriffliche Einordnungsmöglichkeiten zu Kapitalismuskritik und dem „Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895) anstiften und sie hoffentlich durch eure Mitwirkung am Glossar kontinuierlich erweitern.
Marx schreibt Ende der 1850er in einem Brief an Ferdinand Lassalle über sein Hauptwerk: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (MEW 29: 550).
Kritik am Kapitalismus meint im Wesentlichen eine kritische Sichtweise der auf Kapitalismus beruhenden Gesellschaft – es handelt sich also um eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit Arbeits-, Lebens- und Interaktionsverhältnissen. Zumeist geht Kapitalismuskritik auf „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“ (erstmalig veröffentlicht 1864 [Band 1], 1885 [Band 2] und 1894 [Band 3], zu finden in den Marx-Engels-Werken 23 – 25, häufig abgekürzt als MEW 23 – 25) zurück, nimmt jedoch nicht immer zwangsläufig Bezug auf alle Aspekte der 3 Bände. Teilweise kommen sich so bezeichnende ‚Kapitalismuskritiken‘ auch fast vollständig ohne die Theorien Marx‘ und Engels‘ aus, wie beispielsweise die von konservativen, ökologischen oder christlichen Strömungen. Oder aber es werden vereinzelt Aspekte der Marx‘schen Theorien wie aus einem „Werkzeugkasten“ herausgezogen und für weitere Theorien brauchbar gemacht.
Sollen kapitalistische Strukturen kritisiert werden, so müssen nach Marx zunächst die Eigenheiten von kapitalistischen Gesellschaftsformen greifbar gemacht werden. Marx beschreibt, dass in der politischen Ökonomie ein_e Kapitalist_in Kooperationen leitet, die einen Mehrwert erwirtschaften. Sie handeln quasi mit ihrer menschlichen Arbeit (nach Marx einerseits körperliche Prozesse, bei denen Produkte geschaffen werden oder andererseits Dienstleistungen) in Tauschverfahren auf dem Warenmarkt und tauschen sie gegen andere Produkte menschlicher Arbeit. Nur in so einem Tausch werden die erschaffenen Güter zu Waren und erhalten neben dem Gebrauchswert (z.B. darauf sitzen zu können bei einem Stuhl) auch einen Tauschwert, eine, wie Marx es ausdrückt, „Wertgegenständlichkeit“. Die Güter bekommen also einen für den kapitalistischen Tauschmarkt relevanten Wert. Nur dadurch kann schließlich Kapital zirkulieren, was – wie auch Paul Mattick 1969 – schreibt, den Kapitalismus ins Rollen bringt. Mattick beschreibt Kapitalismus als „eine Mehrwert produzierende Wirtschaftsform, die mit dem Konkurrenzkampf um Kapital beschäftigt ist“ (Mattick 1969: 47). Die stattfindenden prozesshaften Kapitalkreisläufe könnten vereinfacht folgendermaßen beschrieben werden: Während aus der Sicht der Arbeitenden der Konsum – also die Erfüllung von Bedürfnissen – im Zentrum steht, ist es für Kapitalist_inn_en von Bedeutung, Kapital und einen sogenannten Mehrwert zu erwirtschaften, der erneut investiert wird. Die_der Arbeiter_in (nach Marx eine Person ohne Produktionsmittel) produziert durch ihre_seine Arbeitskraft eine Ware W und kauft mit dem erhaltenden Geld G wieder eine Ware (W-G-W [Ware – Geld – Ware]) (vgl. MEW 23: 162). Die Person, die selbst an der Erschaffung des Produkts beteiligt war, muss eine benötigte Ware durch Geld erwerben und hat also keinen direkten Nutzen an den Produktionsmitteln und den selbst geschaffenen Gütern. Ein_e Kapitalist_in wiederum investiert zunächst eine Geldsumme G in eine Ware W (Produktionsmittel und Arbeitskraft), um dann eine Geldsumme G‘ zu erhalten. Um jedoch am kapitalistischen Markt zu bestehen, muss diese Geldsumme G‘ größer sein als das einst investierte Geld G. (G – W – G‘ [Geld – Ware – mehr Geld]). Größer wird die dann anschließend weiter investierte Geldsumme vor allem dadurch, dass ein sogenannter Mehrwert erwirtschaftet wird, was dadurch passiert, dass die Kapitalist_inn_en den Arbeitenden nicht den vollen Wert ihrer Arbeit bezahlen. Marx beschreibt eindringlich, dass der menschlichen Arbeit ein besonderer Stellenwert bei der Mehrwertsteigerung zukommt, eben weil allein durch sie – wie oben angedeutet – überhaupt erst Tauschwert produziert wird oder wie Marx schreibt: „Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist“. (MEW 23: 53). Diese Arbeitskraft wird nun jedoch nicht bedürfnisorientiert gestaltet, d.h. die Arbeitenden arbeiten mehr, als es zum Tausch ihrer Arbeitskraft gegen andere Arbeitsprodukte nötig wäre (vgl. Heinrich 2005: 90ff). Diesen Umstand benennt Marx wiederum als Ausbeutung, die den kapitalistischen Gesellschaften grundsätzlich eigen sei und lediglich durch eine Aufhebung des Kapitalismus abgeschafft werden könne (ebd.: 94). Kommt der Mehrwert nicht zustande, könnte das auf eine Bankrottanmeldung für Kapitalist_inn_en hinauslaufen. Um mit der Konkurrenz am Warentauschmarkt mithalten zu können, muss nach kapitalistischer Logik ein_e Kapitalist_in stets darum bemüht sein, die Organisation von Arbeitskraft und von Produktionsmitteln möglichst wertsteigernd anzulegen. Oder anders formuliert: In kapitalistischen Gesellschaften, sind Kapitalist_inn_en fortwährend an einer Vergrößerung der Basis der Ausbeutung interessiert – und auch darauf angewiesen -, um ihre Fortdauer als Kapitalist_inn_en gewährleisten zu können. Im „Kapital“ und bereits vorher im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 appellieren Marx und Engels an eine Umwälzung der seit Beginn der Industrialisierung verschärft ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, sowie an einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, der Privateigentum an Produktionsmitteln aufhebt und so Maschinen beispielsweise auch für die Arbeiter_innen selbst nützlich macht. Sie rufen auf zur Revolution. Aus dem „Kommunistischen Manifest“ stammt auch der Ausspruch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Während neuere Marx-Lesarten (beispielsweise aus der Kritischen Theorie oder dem Poststrukturalismus) den analytischen Instrumenten der marxschen Theorien besondere Aufmerksamkeit schenken, scheint die historisch-materialistische Geschichtsphilosophie und ihre Ausrichtung auf revolutionäre Praxis wie im „Kommunistischen Manifest“ – außerhalb des Kontextes einiger dogmatischer K-Gruppen – heute nicht mehr all zu tragfähig.
An dieser Stelle sollte daran anknüpfend davor gewarnt sein, die Grenzen zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten als absolut und undurchlässig zu verstehen. In einer kapitalistischen Gesellschaft, wie sie momentan global gesehen dominiert, sind alle (Konsument_in, wie Kapitalist_in, Angestellte_r, wie Vorgesetzte_r, freie_r Mitarbeiter_in, wie Selbstständige_r oder DoItYourself-Bastler_in..) gleichermaßen an der Reproduktion (also der immer wiederkehrenden Herstellung) von kapitalistischen Machtstrukturen beteiligt, da sich die dem Kapitalismus zugrundeliegenden Tauschaktionen in alle sozialen Verhältnisse einschleichen. Also ist auch ein selbstausbeuterisches „Selbstständig“-Sein nicht davon befreit, dass das erarbeitete Produkt schließlich wieder getauscht werden wird.
Ein ebenso zentraler Begriff im „Kapital“, der auch im KRASS#2-Artikel „Von falschen Bedürfnissen und Waren-Wünschen“ erwähnt wird, ist der so bezeichnete Warenfetisch. Dieser benennt einen weiteren Wesenszug des Kapitalismus, der durch gesellschaftliche Aushandlungen einem bestimmten Gegenstand einen Wert zuschreibt, der als sein Natur gegebener Wert aufgefasst wird. Dies ist jedoch ein Trugschluss, da eine Ware erst dadurch einen Wert erhält, dass ihr Produktionsaufwand mit denen von anderen Waren auf dem Tauschmarkt – wie eingangs beschrieben – in Verhältnis gesetzt wird. Marx schreibt dazu: „Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützliche Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (MEW 23: 85)
Neben anderen Unterdrückungsmechanismen, die durch den Einsatz wirkmächtiger Kategorien wie race(‚Rasse‘), species (‚Spezies‘), gender (‚Geschlecht‘) oder disability (‚Behinderung‘) Anwendung finden, sehen wir auch in der kapitalistisch ausgerichteten ‚Klassen’gesellschaft zu kritisierende Herrschaftsverhältnisse. Schwierig erscheint es uns jedoch im Rahmen der kapitalismuskritischen Gesellschaftsanalysen, wenn Kritik entweder darauf abzielt, einen ‚humaneren‘ Kapitalismus zu erreichen, wie es Gewerkschaftsbündnisse heute häufig fordern oder wenn einzelne Institutionen (Banken oder Einzelpersonen) im Zentrum der Kritik stehen. Dies kann insofern bedenklich sein, da keine grundlegende Veränderung kapitalistischer Verhältnisse in den Blick kommt, sondern nur einzelne Aspekte kritisiert werden. Dass so eine verkürzte Sichtweise nicht nur bedenklich, sondern fatal sein kann, hat die Kritische Theorie mit Bezug auf die Shoah in aller Ausführlichkeit in ihrer Kritik an ebensolcher personenfokussierter antisemitischen Kapitalismuskritik demonstriert.
Weitere Strömungen, die sich stark an Marx orientieren, sind die Cultural Studies (sieheauch Glossar KRASS#1), marxistisch-strukturalistische Analysen um Louis Althusser oder auch der sogenannte Ökofeminismus, der Kapitalismuskritik mit den häufig als „Nebenwidersprüchen“ gehandelten Aspekten Ökologie und Feminismus in Verbindung setzt. Der Psychologe Donald N. Michael erweitert die marxistischen Ideen um den Aspekt der Technisierung und beschreibt, dass in der sogenannten Cybernation eine Produktivitätssteigerung durch technisierte Fortschritte die benötigten Arbeitszeiten deutlich verringert. Aber auch Vertreter_innen der Postmoderne (Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Postcolonial Studies..; siehe dazu Glossar KRASS#1) haben sich vielfach mit den marxistischen Theorien auseinandergesetzt und sie, wie wir finden, notwendigerweise um wichtige Gedanken erweitert. Sozialistische und materialistische feministische Kritiken aus den Reihen der Ökofeministinnen, wie Vandana Shiva oder Claudia von Werlof haben nicht nur die ökologische Kehrseite einhergehend der Industrialisierung und Globalisierung beleuchtet, sondern u.a. auch heftig kritisiert, dass nach marxistischer Logik die Hausarbeit als nicht produktiv dargestellt wird. Auch die Soziologin Frigga Haugg findet, dass die kapitalistische Produktionsweise „die Haushaltsökonomie, getragen vornehmlich von Frauen“ (Haug 1998: 185) brauche und dieser Umstand immer schon hätte mitgedacht werden sollen. In aktuellen Debatten schließt sich auch die interessante Frage an, inwieweit es möglich ist queer und Kapitalismuskritik zusammenzudenken. In der Zeitschrift gegen die Realität, Phase 2, schreibt beispielsweise Cornelia Möser (2010), dass eine queerfeministische Ökonomiekritik vonnöten sei, um die Kategorien Sexualität und Ökonomie zusammenzudenken. Durch so eine Kritik könne dann versucht werden, die „Interdependenzen zum Ausgangspunkt von Überlegungen und Aktionen“ zu machen. Sexualität und Ökonomie seien „damit nicht lediglich Aspekte, die bei Bedarf zur Betrachtung hinzugefügt werden können oder aber auch nicht. Sie sind immer schon strukturierend wirkmächtig“. In einer thematisch anknüpfenden Darstellung von (queerer) Sexualitäten innerhalb neoliberalistischer Ökonomien analysiert Antke Engel (Leiterin des Instituts für Queer Theory, Berlin/Hamburg) die Funktionen, die in diesem Zusammenhang dem Medium Bild zukommen. Sie stellt dabei auch Verweise her auf Fotografien der südafrikanischen LGBTI-Aktivistin und Künstlerin Zanele Muholi, von der auch in KRASS#2 mehrere Fotografien abgedruckt sind.
Zur Einführung empfehlen wir Michael Heinrich (2005): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, wobei uns bei der Lektüre aufgefallen ist, dass die Interpretationen häufig einen Wahrheitsanspruch erheben, der vor allem im Zuge der ‚Kapital‘-Lektüre nicht immer gegeben sein muss. Engel, Antke (2009): Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld (transcript) Haug, Frigga (1998): Feministische Anmerkungen, in: Eric Hobsbawm u.a (Hrsg.): Das Manifest – heute. 150 JahreKapitalismuskritik, Hamburg, S. 178 – 190. Marx, Karl (1973): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 23, Berlin
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1973): Briefe Januar 1856 – Dezember 1859, in: MEW29, Berlin Mattick, Paul (1969): Marx und Keynes : die Grenzen des gemischten Wirtschaftssystems. Aus dem Amerikanischen von
Diederich, Reiner et al., Frankfurt a.M. Michael, Donald N. (1962): Cybernation: The Silent Conquest, Santa Barbara. Möser, Cornelia (2010): Immaterielle und unsichtbare Arbeit, in: Phase 2 (37) [online: www. http://phase2.nadir.org/, letzter Zugriff: 22.2. 2012].