Das Thema Behinderung erfuhr in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund vieler kriegsversehrter Menschen in erster Linie eine Auseinandersetzung unter pflegerischen und medizinischen Gesichtspunkten. Die systematischen Morde an körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus fanden in der Nachkriegszeit zunächst nur wenig Beachtung. Menschen mit Behinderungen, sogenannte »Zivilbeschädigte« (Köbsell 2006: 1), wurden bis in die 1970er Jahre weniger als Individuen, sondern eher als Bürden ihres Umfelds wahrgenommen (vgl. Bösl et al.). Entsprechend dem sogenannten individuellen Modell von Behinderung »liegen alle in Folge einer Beeinträchtigung auftretenden Probleme im Individuum bzw. seiner Beeinträchtigung begründet. Anstrengungen zur Überwindung dieser Probleme sind wohlmeinende Almosen, die nicht auf die grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ausgerichtet sind. Man tut eher Dinge ›für‹ als ›mit‹ den betroffenen Menschen.« (Köbsell 2006: 16) Diese Sichtweise deckt sich weitestgehend mit dem, was heute unter Ableism zu verstehen ist. [Englisch: ›fähig‹]. Doch Fähigkeiten sind stets abhängig von gesellschaftlichen Gegebenheiten und erschließen sich erst im jeweiligen Interaktionskontext. Je nach gesellschaftlichen Anforderungen und Hilfsmitteln werden Körper und Geist danach bewertet, was sie ›können‹ und was nicht. »Damit ist auch Ableism eine Form des Biologismus, ein Bewertungsmuster anhand einer erwünschten biologischen (körperlichen oder geistigen) Norm. Der Mensch wird reduziert auf und gemessen an [d]er körperlichen oder geistigen Verfassung. […] In diesem Denken tun behinderte Menschen dann zum Beispiel immer etwas nur ›trotz‹ oder ›wegen‹ ihrer Behinderung.« (Maskos 2011)
Ausgehend von den aufkommenden sozialen Bewegungen der Demokratien des geopolitischen Westens, entstanden in den 1970er Jahren emanzipatorische Behindertenbewegungen, die sich gegen ein medizinisches Defizitmodell oder daraus resultierenden Unterdrückungen auflehnten. Neben der kalifornischen Independent-Living-Bewegung der 1970er Jahre wurde beispielsweise durch die 1978 in Bremen gegründete Krüppelgruppe diese defizitäre Denkweise infrage gestellt. Sie widersprachen dem Integrationsgedanken eindeutig, indem sie z.B. Nicht-Behinderten die Mitgliedschaft verwehrten. Neben der Wahl des selbstermächtigenden Begriffs ›Krüppel‹ sollte durch den Ausschluss nichtbehinderter Menschen unterbunden werden, dass sich bekannte Machtstrukturen wiederholten. Die verschiedenen Behinderten-Bewegungen gewannen zunehmend an Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte, beispielsweise durch das Internationale Jahr der Behinderten (1981) oder auf europäischer Ebene durch die daran anschließende UNO-Dekade behinderter Menschen (1983-1992). Doch behielten Menschen mit Behinderung auch im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Thematik weiterhin zumeist einen Objektstatus. Die Deutungshoheit lag bei den nichtbehinderten Mitstreiter_innen. Die Bewegung hingegen forderte ein Ende dieser Stellvertreter_innenpolitik, verlangte den eigenen Subjektstatus für Menschen mit Behinderung und das Forschen und Nachdenken über Behinderung nicht länger den vermeintlichen Expert_innen aus Medizin und Fürsorge zu überlassen.
Das von ihnen vertretene soziale Modell von Behinderung zielt in erster Linie auf die gesellschaftlichen Umstände ab, die Menschen aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung ausgrenzen. Behinderung ist somit nicht biologisch, sondern Folge eines sozialen Ausschlussprozesses, der die Behinderung selbst erst hervorbringt. Da sie nicht als ein Merkmal eines Individuums verstanden wird, das die Zuteilung zu einer (homogenen) übergeordneten Gruppe zulässt, wird im sozialen Modell in impairment (›Schädigung‹/›Beeinträchtigung‹) und disability (›Be-hinderung‹ durch gesellschaftliche und kulturelle Barrieren) unterschieden. Eine physische, kognitive oder sensorische Beeinträchtigung führt somit nur dann zu einer Behinderung, wenn in einer Gesellschaft nicht die dafür notwendigen Bedingungen gegeben sind, die Gesellschaft also nicht auf die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der in ihr lebenden Individuen ausgelegt ist.
Genau diesen Themen widmen sich die Disability Studies in den USA und Großbritannien bereits seit den 1980er Jahren. Sie haben sich weitestgehend unabhängig voneinander entwickelt – so kann für den amerikanischen Raum eine vornehmlich geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektive und in Großbritannien eine eher sozialwissenschaftliche Ausrichtung festgestellt werden (vgl. Dederich).
Bei den Disability Studies handelt es sich um einen interdisziplinären Forschungsansatz, der unter dem Begriff ›Behinderung‹ die Vielfältigkeit gesundheitsspezifischer Faktoren fasst: heterogene, gesundheitsrelevante Differenzformen. Die Disziplin betrachtet die Gesellschaft unter Einbezug von vornehmlich sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten aus der Perspektive der emanzipatorischen Behindertenbewegung. Hauptgegenstand der Untersuchungen ist dabei der Begriff ›Behinderung‹ als soziale Konstruktion.
»Die wohl wichtigste paradigmatische Grundlage […] ist die Annahme, dass Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern in den verschiedensten alltäglichen, kulturell und wissenschaftlichen Diskursen hergestellt wird. Von besonderem Interesse dabei sind u.a. die Herausbildung gesellschaftlicher Deutungsmuster und Institutionen, spezifischer Praktiken, die Sprache (etwa Metaphern und Redewendungen), kulturelle Symboliken, Formen medialer Repräsentation in Bildern, Texten und Filmen [und anderem mehr] Behinderung wird hier nicht nur konsequent historisiert, sondern auch als Zeichen und Symbol behandelt, als kulturelle Repräsentation.« (Dederich 2007)
Anne Waldschmidt erweiterte bereits in den 1990er Jahren das soziale Modell um die kulturelle Komponente. Angelehnt an die amerikanischen, poststrukturalistisch beeinflussten Disability Studies sollen »hergebrachte Sichtweisen dekonstruiert und neue Blicke produziert [werden].« (Waldschmidt 2006). Dabei kritisiert sie die Unterscheidung zwischen Schädigung und Behinderung als dualistisch, modernistisch und essentialistisch. Wird die Behinderung (disability) im sozialen Modell von der Gesellschaft verursacht, scheint die Schädigung (impairment) weiterhin biologisch bedingt zu sein und wird medizinisch erklärt. Ein Zusammenhang zwischen Behinderung und Schädigung wird dabei nicht hergestellt. Während sich diese Trennung für die Behindertenbewegung als durchaus nützlich erwiesen habe, spiele Körpererfahrung nach Waldschmidt im Erleben von Menschen mit Behinderung jedoch sehr wohl eine gewichtige Rolle. Dies zeige sich beispielsweise in Autobiografien von Menschen mit Behinderung, in denen sich häufig mit dem Thema Körpererfahrung beschäftigt werde. Auch auf politischer Ebene, im Kampf um Selbstbestimmung, spiele der Körper eine Rolle (vgl. Waldschmidt 2005). Behinderung soll somit gänzlich nicht mehr als Ausnahme verstanden werden, die es zu kurieren, sondern vielmehr als Regel, die es in ihrer Vielfältigkeit einfach zu akzeptieren gilt.
So bleibt die Leitvorstellung der Disability Studies: »gesellschaftliche Sichtweisen und
Praktiken so verändern zu können, dass Menschen mit besonderen körperlichen
Merkmalen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein voller Subjektstatus und uneingeschränkte Partizipation möglich wird.« (Waldschmidt/Schneider 2007: 13)
Ein interessanter Ansatz dazu sind die Ability Studies. Diese gehen der Frage nach, inwiefern Fähigkeitsansprüche/-erwartungen und Ableism Hierarchien und Präferenzen schaffen und wie diese Einfluss auf das Leben ausüben. So werden Formen der Subjektbildung, sozialer Beziehungen und Erfahrungen untersucht, die auf verschiedenen Fähigkeitserwartungen und diesbezüglichen Handlungen gründen. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern rechtliche, ethisch-moralische, biologische, kulturelle und soziale Konstrukte Fähigkeitserwartungen aufweisen und wie diese Ansprüche und die dadurch ausgelösten Handlungen zu einem auf Fähigkeit basierendem und letztlich Fähigkeit rechtfertigendem Selbstverständnis (zum eigenen Körper, zu anderen Menschen, anderen Spezies oder der Umwelt) führen. (vgl. Wolbring)
Vgl. zu diesem Thema auch den Artikel „Pflegestufe Drei und Spaß dabei – Ein kritischer Blick auf den Selbstbestimmungsbegriff der Behindertenbewegung“ von Rebecca Maskos, da Interview mit Nora Sties und die Beiträge von Ju Gosling in KRASS #3.
Literatur:
Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (2010): Disability History Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, herausgegeben von dies., Bielefeld.
Dederich, Markus (2007): »Disability Studies und Integration«, in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 3/4/2007, [online: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh3-4-07-dederich-disability.html, letzter Zugriff: 01.08.2015].
Köbsell, Swantje (2006): »Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung: zur Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland«, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Disability Studies I, ZeDis Hamburg, 26.04.2006, [online: http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/gegenwart/zusatzinformationen/gegen-aussonderung-fuer-selbstvertretung/, letzter Zugriff: 02.08.2015].
Maskos, Rebecca (2011): »›Bist Du behindert oder was?!‹ Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen«, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Jenseits der Geschlechtergrenzen der AG Queer Studies und der Ringvorlesung Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies, Universität Hamburg, 14.12.2011, [online: http://bidok.uibk.ac.at/library/maskos-behindert.html, letzter Zugriff: 10.08.2015].
Waldschmidt, Anne (2005): »Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?«, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 01/2005, S. 9-31.
Waldschmidt, Anne (2006): »Körper – Macht – Differenz: Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies«, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Disability Studies II, ZeDis Hamburg, 29.11.2006, [online: http://bidok.uibk.ac.at/library/waldschmidt-koerper.html, letzter Zugriff: 27.07.2015].
Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (2007): »Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung«, in: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, herausgegeben von Anne Waldschmidt und Werner Schneider, S. 9-25.
Wolbring, Gregor: »Ability Studies: A Field to Analyse Social Justice Issues and Identities of Humans, Animals and Nature «, Vortrag im Rahmen der Critical Junction Conference, Emory University, 15.03.2014, [online: http://www.crds.org/research/faculty/criticaljunctiontalk3.pdf, letzter Zugriff: 11.08.2015].