Poststrukturalismus

Poststrukturalismus entstand im Kontext der französischen Theoriebildung Mitte der 1960er Jahre. In deren Mittelpunkt stand die Infragestellung des Strukturbegriffs des klassischen Strukturalismus (Gründer und Vertreter: Ferdinand de Saussure & Claude Lévi-Strauss). Der Ansatz war, sich von den starren und als universalistisch definierten Strukturen des Strukturalismus abzusetzen, um stattdessen deren Wandlungsfähigkeit und Kontingenz (etwas ist weder notwendig noch unmöglich, d.h. es kann so sein, ist aber auch anders möglich) hervorzuheben.
Es handelt sich dabei nicht um eine einheitliche/ homogene Denkrichtung, jedoch gibt es einige Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Ansätze, z.B. der starke Einfluss von sprachphilosophischen Konzepten auf poststrukturalistische Gesellschaftstheorie. Dies wird in den Gesellschaftswissenschaften auch als linguistic turn (Rorty 1967; Linguistische Wende) bezeichnet. Dabei wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Prozesse wie im System der Sprache strukturiert sind.

Poststrukturalistische Ansätze zweifeln die Annahme eines stabilen, präsenten und eigentlichen Sinns von Strukturen an. Strukturen und Diskurse (siehe Diskurs) werden nicht als stabil und starr angesehen, sondern als veränderlich. Im Poststrukturalismus sind Strukturen nicht feste Gefüge, sondern dynamische Verweisungsprozesse. Somit sind soziale Verhältnisse veränderbar, kontingent und unterliegen einem Wandel. Darüber hinaus geht es darum, Ausschließungen und Verwerfungen von Positionen und Lebensformen aus hegemonialen Diskursfeldern sichtbar zu machen.
Ein wichtiger Modus, in dem poststrukturalistische Ansätze arbeiten, ist das Aufzeigen von Differenz. „Nicht die Identität einzelner Elemente interessiert, sondern die Differenz zwischen ihnen, welche es erst ermöglicht, dass Identität entsteht“ (Stäheli 2000:20). Identität aus sich selbst heraus ist praktisch unmöglich, erst durch das in Beziehung – in Differenz setzen zu etwas anderem – kann Identität entstehen. Poststrukturalistische Ansätze sind oft auch ein wissenschaftskritisches Verfahren, um zu rekonstruieren, wie soziale Konstruktionen funktionieren, und hinterfragen dabei auch die Voraussetzungen von Theorien, die soziale Prozesse zu erklären versuchen. Soziale Verhältnisse werden als Konstruktionen begriffen, die dekonstruiert werden können, indem diesen Konstruktionen weitere Bedeutungen und Interpretationen entgegen oder daneben gesetzt werden (siehe Dekonstruktion).
Erkenntnis wird als Prozess verstanden, der innerhalb von Diskursen sprachlich vermittelt und hervorgebracht wird und gleichzeitig bereits durch diese Diskurse, die ihn hervorbringen, vermittelt ist. „Mit solchen Interventionen wird davon ausgegangen, dass die Welt nicht repräsentiert werden kann, sondern dass die Repräsentation bereits eine Konstruktion ist, die den Gegenstand, den sie vermeintlich nur beschreibt, innerhalb eines spezifischen Macht-Wissens-Komplex hervorbringt.“ (Groß 2008:42f)

Exkurs vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus:

Poststrukturalismus bedeutet ’nach dem Strukturalismus‘. Strukturalismus ist dabei zugleich Ausgangs- als auch Angriffspunkt. Der Strukturalismus kann nicht erklären, warum Zeichen vielfältige Bedeutungen haben können und warum sich die Bedeutungen von Zeichen ändern. Die im Strukturalismus formulierte Idee, dass Sinn als Effekt der Struktur zu verstehen ist, wird dagegen im Poststrukturalismus weitergeführt. Die von dem Linguisten Ferdinand de Saussure entwickelte Lehre der Semiologie gilt als eine wesentliche Grundlage des Strukturalismus.

Semiologie als Zeichentheorie untersucht die Herstellung von Bedeutungen wie auch deren Vermittlung über Zeichen. Eine Bedeutung kann nach Saussure nur über Zeichen und zugleich nur in einem System von Zeichen vermittelt werden. Dabei besteht jedes Zeichen aus einer untrennbaren Verbindung von zwei Elementen, die bei jeder Äußerung zitiert werden: einem Signifikanten (durch das Laut- und Schriftbild bezeichnet) und dem Signifikaten (Vorstellung/Idee, die über das Bezeichnende repräsentiert wird). Das Gesprochene und geschriebene Wort „Frau“ stellt den Signifikanten dar, das dahinterliegende Konzept „Frau“ bezeichnet das Signifikat. „Mit jeder Äußerung ist dann immer beides verbunden ein Ausdruck und eine Bedeutung, eine Schrift und ein Konzept.“ (Plößer 2005:21) Das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant ist beliebig, d.h. es gibt keine natürliche oder außersprachliche Begründung nach der sich das Wort „Frau“ auf das Konzept „Frau“ zu beziehen hat. Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich aus der Einbindung in ein komplexes und relational organisiertes Zeichengewebe, in dem das Zeichen seine Bedeutung über die Differenz (différence) erhält, die es zu anderen Zeichen aufweist. Das heißt, kein Zeichen hat eine Identität an sich, sondern erhält diese immer erst über sein Verhältnis zu anderen Zeichen. Vor und außerhalb der Sprache existieren keine Bedeutungen, die Zeichen verdanken ihre Wertigkeit allein ihrer Eingebundenheit in ein strukturierendes und durch differentielle Verweisungen Bedeutung konstituierendes System. Diese Idee beschreibt Saussure mit einem Schachbrett: Genauso wie die Schachfiguren ihre Bedeutsamkeit durch ihre relationale Anordnung auf dem Schachbrett erhalten, beziehen die Zeichen ihre Identität durch die Differenz, die sie zu anderen Zeichen aufweisen.

Ist die Differenz bei Saussure noch Ursprung und zugrundeliegendes Prinzip aller Zeichen, so fällt dies bei Jacques Derrida (einem der „Gründer“ des Poststrukturalismus) ihren eigenen Regeln zum Opfer: Auch die Differenz ist von der Differenz betroffen. So kritisiert Derrida an dem differentiell bestimmten Zeichensystem Saussures, dass die angenommene Beliebigkeit (Arbitrarität) zwischen Signifikat und Signifikant durch die Vorstellung eines festen Systems, das eine differentiell bestimmbare Identifikation der Zeichen erlaube (das Schachbrett), wieder zurückgenommen werde. Diese Einheit von Signifikat und Signifikant kritisierte Derrida und entwickelte sie weiter. Er geht davon aus, dass Bedeutung in einem Netz von Differenzen hergestellt wird und darüber hinaus auch die Elemente des Zeichens, also Signifikat und Signifikant, grundsätzlich different (verschieden) sind. Derrida versucht dem französischen Wort différer den doppelten Sinn des Wortes (von aufschieben, verzeitlichen und nicht identisch sein, anders sein) wiederzugeben. Letzteres wird in différence nicht mitgedacht und soll mit Derridas Kunstwort différance wiederhergestellt werden. Bei diesem Kunstwort mit „a“ ist die Veränderung des Wortes beim Sprechen nicht zu hören, sondern nur in der Schrift zu sehen. Nur über den Verweis auf die Schrift ist klar zu machen, ob über différence oder différance gesprochen wird. „Auf jeden Fall werden die mündlichen Präzisierungen, die ich aufgebe – wenn ich sage »mit e« oder »mit a«, – unumgänglich auf einen geschrieben Text verweisen, der meine Rede überwacht.“ (Derrida 1999:78; Hervorh.i.O.)
Damit kritisiert Derrida den Vorrang des Sprechens gegenüber der Schrift (Phonozentrismuskritik). Différance soll die permanente Verschiebung deutlich machen, durch die Zeichen und in deren Folge auch Bedeutungen oder Identitäten geprägt sind. Différance bedeutet einerseits zeitlich aufschieben und andererseits nicht identisch sein, anders sein. Die Bedeutung eines Zeichens besteht nicht aus sich selbst heraus, sondern wird erst in der Schrift und auch in der Sprache durch permanente Wiederholung erzeugt. Der Kontext, in dem die Wiederholung vollzogen wird, ist dabei nicht immer exakt der gleiche. Die Bedeutungen verändern sich vielmehr je nach Kontext, d.h. die Schrift und das dahinter stehende Konzept sind keine positive Einheit, sondern von Differenz bestimmt.
Différance ist eine Bewegung, die die Differenz sowohl voraussetzt als auch stets erst produziert. Es handelt sich um die Differenz der Differenz. Différance ist eine strukturierende Bewegung und ein unendliches Spiel von Differenzen. Sie ist ein System des unendlichen Verschiebens und Unterscheidens und damit ein offenes Spiel der Bedeutungen. Die différance führt gleichzeitig das aus, was sie bezeichnet. Sie ist somit eine strategische Bewegung, die nicht wirklich existiert. Die Bedeutung eines Zeichens ist demnach allein als aufgeschobene denkbar und ist nur nachträglich als Spur zugänglich. Die différance besitzt dadurch kein gegenwärtiges Seiendes, sie ist eine vorläufige graphische Spur, die ihre Wirkungen erst noch zeitigen muss.

Um die Verschiebung aufzuspüren, entwickelt Derrida die Haltung der Dekonstruktion (siehe Dekonstruktion). Eine weitere Anknüpfung an diese Bewegung der sprachlichen wie materiellen Dinge befindet sich im Begriff der Performativität (siehe Performativität).

Zur Einführung in das Thema empfehlenswert: Poststrukturalistische Soziologien von Urs Stäheli (2000).

Derrida, Jaques (1999): Die différance, in: Peter Engelmann, Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart, S.76-113.
Groß, Melanie (2008): Geschlecht und Widerstand. post..| queer..| linksradikal.., Königstein/Taunus
Plößer, Melanie (2005): Dekonstruktion-Feminismus-Pädagogik. Vermittlungsansätze zwischen Theorie und Praxis, Königstein/Taunus
Stäheli, Urs (2000): Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld

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